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What would Jesus do?

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Homosexuell und Mitglied in der katholischen Kirche sein –  seit ein paar Jahren lässt mich dieses Verhältnis in einem Zwiespalt verharren. Nicht zwischen mir und meiner Sexualität. Keineswegs. Eher zwischen den Entscheidungen, ob ich weiterhin ein Teil meiner Gemeinde bleiben und Geld in eine veraltete Institution investiere, oder aus der Kirche austrete und damit irgendwie meinen Glauben verrate. Täte ich dies denn?

Im zarten Alter von 8 Jahren wurde mir in einem Jugendgottesdienst einmal beigebracht, mich in solch konfliktären Situationen zu fragen: „What would Jesus do?" Also: Was würde Jesus tun? Das klingt im ersten Moment paradox. Warum, um Himmels willen, sollte ausgerechnet Jesus Christus, Symbol des Christentums, Messias und Sohn Gottes jemals überhaupt in Erwägung ziehen, eine:n Anhänger:in aus der Kirche zu „entlassen“?

Ich glaube dennoch, dass ich mir genau diese Frage stellen muss.

Wenn man den Schriften der Bibel Glauben schenkt, hatte Jesus vor über 2.000 Jahren einen immensen Einfluss auf das Handeln der Menschen. So gesehen war er der Mega-Influencer seiner Zeit. Eigentlich war es auch er selbst, der sich mit den Praktiken der Juden schwergetan hat, der das Gottesbild der Menschen geprägt hat, ihnen von einem anderen, liebenden Gott erzählt hat. Er drehte damit das Weltbild seiner „Follower“ um 180 Grad: Wie kann ein Gott auf einmal liebend sein, wenn er noch vor Jahrhunderten Plagen, Zorn und Leid über Menschen gesandt hat? Nun soll ein junger Mann aus Nazareth dahergelaufen kommen und die frohe Botschaft Gottes verkünden? Verrückt, könnte man meinen. Ich kann mich mit diesem „Verrückten aus der Wüste“ jedoch ganz gut identifizieren. Gerade, wenn es darum geht, paradoxe Wege einzuschlagen.

Genau an diesem Punkt stehe ich auch gerade. Oft werde ich gefragt: „Warum bist du überhaupt noch in der Kirche, Marcel?“, „Wie kannst du eine Institution finanziell unterstützen, die deine zeitgemäßen Werte der Gleichberechtigung nicht vertritt?“ 

Hier kommen meine Gegenfragen: Ja, ich bin homosexuell katholisch. Ist das ernsthaft ein Widerspruch, der so groß ist, dass er in meiner Glaubensgemeinde als wortwörtliches Ausschlusskriterium gilt? Müsste ich erst hetero werden, um ein guter Christ zu sein? Muss ich ernsthaft meinen (naiven?) Glauben an das Gute in den Menschen ablegen, um für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu kämpfen? Schließt das eine immer das andere aus? 

Es ist nicht immer nur Schwarz-Weiß

Mit diesem Denken bin ich nicht großgeworden. Ich bin in einer Gemeinde aufgewachsen, in der vieles anscheinend besser lief als in so vielen anderen deutschen Bistümern mit ihren Missbrauchsvorfällen, sexueller Gewalt, Unterdrückung, Intrigen und finanziellen Machenschaften. Ich bin in einer Gemeinde aufgewachsen, in der Toleranz, Respekt, Gleichheit und Liebe über jeder Sünde, jeder Andersartigkeit und jedem Fehler standen. Jeder Mensch ist gleich vor Gott. Jeder Mensch ist schön, wie er ist: „Ob du groß bist oder klein, dick oder dünn – Gott hat dich lieb." In meiner Gemeine wurde niemand ausgeschlossen, sondern aktiv integriert. Vielfalt wurde nicht nur gepredigt, sondern gelebt – auch dank des großen Anteils unserer eritreischen, indischen oder polnischen Mitglieder. Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung spielten in meiner Gemeinde nie ein eine Rolle. Man wurde für das zelebriert, was man war, und genau darin gefestigt. Christliche Werte haben mir die Möglichkeit gegeben, in meiner Einzigartigkeit Sicherheit zu finden.

Ich spreche übrigens bewusst von der Gemeinde und nicht der Kirche. Eine Gemeinde ist mehr als eine Kirche. Gemeinde bedeutet Gemeinschaft. Eine Gemeinde ist eine Zusammenkunft von Gleichgesinnten und Gläubigen, die einander offen willkommen heißen. Schlussendlich ist die Kirche für mich nur das architektonische Gebäude (ein Gotteshaus), in dem man zusammenkommt, um in einem geschützten Umfeld Persönliches, Privates und Intimes zu teilen. Ohne Schamgefühl, ohne Häme oder Diskriminierung. Etwas, das für mich nicht in Worte zu fassen ist. Etwas, das ich öffentlich nicht immer leicht ausleben kann, weil ein offenes Bekenntnis zu Religion heutzutage leider schon Potential zur Ausgrenzung bietet. Und dann auch noch katholisch – bloß nicht! In diesem Schutzraum existiert nichts davon. Wir wissen: Wir verstehen uns. Wir sehen uns. So fühlt sich Gemeinde – Gemeinschaft – an. 

Gefühle vs. Tatsachen

Doch jedes Mal, wenn ich heute nach langer Zeit wieder eine Kirche betrete, überkommt mich ein befremdliches Gefühl. Ich denke zurück an die „alten Zeiten“ und frage mich: „Wo ist diese Glückseligkeit geblieben?“ Und dann fällt mir wieder ein, dass die Zweifel schon damals keimten, wenn Inhalte gesungen, gelesen oder gepredigt wurden, die ganz eindeutig dem widersprechen, was ich bin: schwul. Der ideale Nährboden für Konflikte und Selbstzweifel.

Ich muss mit ansehen, wie eine so mächtige Institution ihre veraltete und konservative Ideologie einer gesamten neuen Welt auferlegt. Sie ist somit alles andere ist als inklusiv, vielfältig, bunt oder offen. Somit bin nicht ich es, der unchristlich ist, sondern diese Institution selbst, die mich daran hindert, das Reich Gottes zu erfahren. Das Paradoxe ist ja: Als Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft zahle ich jeden Monat Steuern. Und an dieser Stelle ist es auf einmal egal, ob ich schwul, geschieden, Sünder oder weiblich bin. Hier sind alle herzlich willkommen, über dem Spendenbeutel ihr Kleingeld auszuschütteln.

Mir wurde einmal gesagt, ich sei kein Christ, da ich Wörter der Bibel nicht wahrhaftig beim Namen nehme. Aber die Bibel, ein Schriftstück, welches vor über Tausend Jahren geschrieben wurde, beim Wort zu nehmen, wäre närrisch und dumm. Sie besteht aus Bildnissen, Gleichnissen und Moralen, und so sollte sie auch aufgenommen werden. Wer alles wörtlich nimmt, hat in meinen Augen nur Angst, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. 

Am Ende bleibt die größte Frage, der ich mich stellen muss: Wie kann ich hinter etwas stehen, was mich und meine Person offenkundig verstößt? Wie kann ich etwas angehören, was bis heute in einigen Teilen der Welt Homosexualität als Krankheit ansieht? Sogar versucht, dies durch Exorzismen, Segnungen und anderem Hokuspokus auszutreiben?

Fazit

Was Jesus tun würde, weiß ich natürlich nicht. Genau so wenig wüsste ich, was der Papst in meiner Situation täte. Ich habe mich nun lange mit dem Thema auseinandergesetzt und habe eine Entscheidung getroffen, hinter der ich stehe und ich bin gewillt, in den Dialog zu treten, wenn sie zur Diskussion wird: Ich werde aus der Kirche austreten. Nicht, um Geld einzusparen oder plump ein „Zeichen“ zu setzten. Nein, ich entscheide mich stattdessen für eine gezielte finanzielle Unterstützung jener christlichen Werte, die mich von kleinauf geprägt und geformt haben. Somit werde ich jeden Monat einen kleinen Beitrag eine christliche Organisation spenden, die sich für mehr Vielfalt, Gleichberechtigung, Inklusion und Toleranz in der „hochheiligen“ katholischen Kirche einsetzt. 

Ja, ich trete aus der Kirche aus und werde dennoch meinen Glauben weiter ausführen. Was soll ich schon befürchten? Dass eine Falltür mitten im Petersdom aufgeht, Feuer emporsteigt und ich mit einem hohen Schrei in die Tiefe gezogen werden? Nein. Das einzige, was mir passieren könnte, sind sexistische, verbitterte, rassistische, alte weiße Männer, die sich anmaßen, meine sexuelle Orientierung an meinem Äußeren ablesen zu wollen und darüber zu urteilen, ob ich es wert bin, ein Mann und ein Christ zu sein.

Ja – schwuler Christ sein, das geht

Ich kann aus der Kirche austreten und dennoch christlicher sein als der Vatikan. Ich kann Sex mit einem Mann haben, ohne direkt vom Blitz getroffen zu werden. Ich kann aus der Kirche austreten und dennoch meinen Glauben mit Gleichgesinnten einer Gemeinde ausleben. Ja, ich kann schwul und gleichzeitig katholisch sein. Genauso kann man dunkelhäutig und deutsch sein, Frau und erfolgreich, Typisch weibliche Charakterzüge ausleben und trotzdem ein biologischer Mann sein. Es gibt so vieles, was sich nicht ausschließt, obwohl es für Verfechter von „Gewohntem“ Schwarz und Weiß erscheint. Erst die verschiedensten Facetten und Nuancen der Kontraste machen das Leben bunt und wunderschön. 

Wir sind alles Menschen dieser Welt und ob dein Gott nun Jahwe, Allah oder Jesus heißt, ist am Ende ganz egal. Es geht vielmehr um Toleranz und Nächstenliebe, um den Ort, der für uns geschaffen wurde (von Gott oder einer Naturgewalt) zu erhalten und mit Respekt zu behandeln. Um das zu verstehen muss man nicht Christ sein, sondern Mensch. 

PS: Always remember – „Religion is like a Penis. It's fine to have one. It's fine to be proud of it. But please don't whip it out the public and start waving it around.“ 

9m
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