Der Sommer ist oft härter als der Winter

Wenn Menschen nach Geld gefragt werden, vergessen anscheinend viele, wie beschämend das Betteln nach Geld sein kann. Vor den Augen anderer Passant:innen werden die Obdachlosen belehrt. Sie sollen sich von dem gegebenen Geld bloß keinen Alkohol oder andere Drogen kaufen. Das Schlimmste daran: Diese Menschen feiern sich als Helden, weil sie einer hilfsbedürftigen Person eine kleine Spende gegeben und gleichzeitig sichergestellt haben, dass diese nur für Lebensmittel ausgegeben wird. Da kann man die Tatsache, dass die Sucht nach Alkohol und Drogen eine Krankheit ist, getrost ignorieren.

Ingo Hirche weiß, wie sich Menschen auf der Straße fühlen – er ist wohnungslos. Aufgrund von mehreren Bandscheibenvorfällen ist er mit 40 Jahren in die Frührente entlassen worden. Der fehlende Job hat ihn in eine Drogen- und Alkoholsucht getrieben. Schließlich konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen und lebte etwas mehr als drei Jahre auf der Straße. Über einen glücklichen Zufall ist er zu seiner Hündin Gina gekommen. Durch sie war er weniger einsam und hatte die Kraft einen Entzug zu starten – erfolgreich. Aktuell ist er in einer Wohngruppe der FranzFreunde Düsseldorf untergekommen und hofft auf eine eigene Wohnung zum Ende des Jahres.

Anders als die meisten annehmen, ist der Sommer für viele Obdachlose in Deutschland härter als der Winter.

Während es in den kalten Monaten um das bloße Überleben geht, kehren Depressionen und Psychosen bei warmen Temperaturen stärker zurück. Viele greifen noch eher auf Drogen zurück um mit den Gefühlen umgehen zu können. „Der Sommer ist anstrengender und nervenzehrend“, erinnert sich Hirche. Gerade bei Extremwettern, wie in diesem Jahr, ist es auf der Straße nicht leicht. „Bei starkem Regen findet man zwar meist einen überdachten Ort zum Schlafen, aber es sind kaum Menschen auf der Straße. Das bedeutet dann automatisch weniger Geld.“ Geld, das Obdachlose dringend benötigen. Denn für die Menschen auf der Straße geht es bei Hitze um essenzielle Dinge wie Wasser oder Sonnenschutz. Gerade in großen Städten geht man in der Anonymität verloren.

„Die Unterstützung kommt nicht zu dir, du musst sie dir selbst suchen“, sagt Hirche. Er lebte mehrere Monate in Berlin am Bahnhof Zoo auf der Straße. Dort könne nicht vielen Menschen geholfen werden – es seien einfach zu viele: „Es ist hart, aber viele Obdachlose merken gar nicht mehr, wenn ihre Haut durch die Sonne verbrennt.“

In den meisten Städten gibt es Anlaufstellen, an denen sich Bedürftige mit Schutz gegen die Sonne ausstatten können. „Doch um diese Hilfe annehmen zu können, darf man sich nicht hängen lassen. Das ist das aller Wichtigste“, meint er. Viele der Notfallstellen sind nur im Winter geöffnet, wodurch den Menschen weniger Schutz geboten ist.

Doch im Sommer werden nicht nur die Wetterbedingungen zu einem Problem, sondern auch steigende Aggressivität. Das Leben spielt sich draußen ab, viele sind länger unterwegs. Obdachlose bieten oft eine Angriffsfläche für Pöbeleien. „Ich erinner mich, dass wir manchmal durch den ganzen Bahnhof gejagt wurden.“ Die Aggressivität kommt aber auch von Innen heraus: „Wenn du etwas besitzt, was alle brauchen, wie Essen, Trinken oder Decken, wirst du zum Ziel. Die wenigen Dinge, die man hat, verteidigt man mit allen Mitteln.“

Dieser Text soll nun also aufklären, als ein Appell für Empathie dienen, damit wir unsere Zwischenmenschlichkeit nicht verlieren. Auch nicht bei Obdachlosen. Weder im Winter, noch im Sommer.